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Pflegende Angehörige, schwer betroffene pflegebedürftige Patient*innen und die Physiotherapie

Betreuung und Therapie pflegebedürftiger Menschen

Neben der Verschiebung von Altersstrukturen ist vor allem durch die Zunahme von chronischen Erkrankungen ein starker Anstieg der Pflegebedürftigkeit zu erwarten. Nach Vorausberechnungen werden deutschlandweit im Jahr 2030 etwa 3,68 Millionen, im Jahr 2050 sogar bis zu 4,6 Millionen Menschen pflegebedürftig und somit auf externe Hilfe angewiesen sein (Menzel-Begemann 2015).

Laut dem Statistischen Bundesamt wurden im Jahr 2019 vier von fünf Pflegebedürftigen in Deutschland zu Hause versorgt, wobei die Pflege größtenteils von Angehörigen, teilweise mit Unterstützung eines Pflegedienstes, umgesetzt wurde. Bewohner*innen in Pflegeheimen machen lediglich ein Fünftel der pflegebedürftigen Menschen in Deutschland aus.

Lebenswelt von neurologisch betroffenen Patient*innen

„Plötzlich ist nichts mehr, wie es war.“

Patient*innen die einen Schlaganfall erleiden, erleben, je nach Schwere der Betroffenheit, eine drastische Veränderung der eigenen Lebenssituation. Was zuvor eine Selbstverständlichkeit war, ist plötzlich nicht mehr möglich. Dies kann die Berufsausübung oder das Hobby bis hin zur Selbstständigkeit im Alltag (z.B. Ankleiden oder Essenzubereitung) betreffen.

Körperliche und/oder kognitive Einschränkungen ziehen dabei meist einen Verlust an Autonomie und das angewiesen Sein auf Hilfe nach sich. Dies kann mit Scham, (Zukunfts-) Ängsten sowie dem Gefühl fehlender Kontrolle einhergehen (DEGAM 2020). Aus diversen Studien und klinischen Erfahrungen geht hervor, dass Behinderung oder Pflegebedürftigkeit mit einer sozialen Isolation und dem Verlust sozialer Kontakte in Zusammenhang stehen. Stigmatisierung und sozialer Abstieg führen zudem zu einer Ausdünnung des sozialen Netzwerks und beeinträchtigen die Chance auf gesellschaftliche Teilhabe (Stegbauer und Häußling 2010).

 

„Man braucht Mut, man braucht Ausdauer […] und Nerven“

Personenbezogen Faktoren, wie vorherigen Bewältigungsstrategien und Lebenseinstellungen von Patient*innen, kommt in der Bewältigung derartiger Lebensereignisse eine große Bedeutung zu. Selbstwirksamkeit gilt dabei als die wichtigste Einflussgröße in Bezug auf das Gesundheitsverhalten. Personen mit einer hohen Selbstwirksamkeit setzen sich größere Ziele, strengen sich mehr an und erholen sich schneller von Rückschlägen. Kontrastierend dazu, geben Menschen mit niedriger Selbstwirksamkeit schneller auf.

 

Lebenswelt von pflegenden Angehörigen

Doch nicht nur die Patient*innen selbst, auch pflegende Angehörige erleben drastische Veränderungen durch die plötzliche Unselbstständigkeit des Familienmitglieds und übernehmen ungewohnte Aufgaben. Sie werden mit Hilfsbedürftigkeit einer nahestehenden Person konfrontiert und nehmen eine zentrale Rolle im Versorgungsgeschehen von Patient*innen ein. (Menzel-Begemann 2015)

Änderungen durch eine plötzliche Unselbstständigkeit eines Familienmitglieds haben Auswirkungen auf Machtpositionen, Rollenverteilungen, Aufgaben und Entscheidungen innerhalb des Systems der Familie. Familiäre Systeme sind insbesondere in Zeiten der Überforderung und/oder Änderung von Gegebenheiten von großer Bedeutung. Dabei gewinnt sowohl der Einzelne als auch das System als solches an Stabilisierung. Eine zentrale Bedeutung innerhalb dieses familiären Systems kommt der Beziehungsdynamik untereinander zu.

Angehörige treten ab dem Zeitpunkt der Unselbstständigkeit des Betroffenen und der damit verbundenen Hilfebedürftigkeit in eine Doppelrolle, welche mit Erwartungen und Verpflichtungen einhergeht. Einerseits stellen Angehörige ihre Ressourcen zur Verfügung, anderseits benötigen sie selbst Hilfe. Im Rahmen des bestehenden familiären Systems müssen sich Angehörige damit neuen Herausforderungen stellen (von Bosse und Richter 2021). Dies fordert eine ganzheitliche Betrachtung des Familiennetzwerks als wirkendes System (Handel 2003).

Während die Situation von Außenstehenden häufig als stabil empfunden wird, sind Familienkonstellationen mit Abhängigkeitsverhältnissen von Familienangehörigen oft konfliktbelastet und gehen mit potenzieller Überforderung der Pflegeperson einher. Dies gilt insbesondere für asymmetrische Konstellationen mit einer dauerhaften oder langanhaltenden Hilfebedürftigkeit (Stegbauer und Häußling 2010).

Nicht nur die körperliche Pflegetätigkeit schränkt das Leben der Pflegenden ein, auch die seelische und moralische Lebenssituation nimmt einen großen Einfluss auf das (Er-) Leben der Beteiligten. Wut, resignierendes Verhalten oder verbale Abwehr des zu Pflegenden sind nur einige Herausforderungen, welchen sich pflegende Angehörige stellen müssen. Gleichzeitig werden eigene Bedürfnisse und Wünsche hintenangestellt und ein Großteil der zur Verfügung stehenden Zeit in die Pflege und Betreuung des Familienmitglieds investiert.

Während Unterstützungsangebote im näheren Freundes- und Verwandtenkreis zu Beginn der Pflegebedürftigkeit groß sind, lässt diese im Laufe der Betroffenheit deutlich nach, was dazu führt, dass sich Angehörige immer weiter im häuslichen Umfeld aufhalten.

Pflegende Angehörige in der Therapie

Da Angehörige einen Großteil der Zeit mit dem Betroffenen verbringen und pflegerisch-therapeutische Tätigkeiten unterstützen, beeinflussen sie den Therapieerfolg in hohem Maße. Trotz der Wichtigkeit ist die Einbindung von Angehörigen im Therapieprozess bislang eher sporadisch. Oft werden sie als Störgröße wahrgenommen und der Kontakt daher vermieden.

Schönberger und von Kardorff (2004) erläutern, dass es in dem Dreieck von Patient*in, medizinischem Fachpersonal und Angehörigen immer wieder zu Störungen durch Angehörige kommen kann, weshalb diese aus der Behandlung ausgeschlossen werden. Dabei verweisen die Autor*innen auf die Problematik des korrekten Umgangs mit Angehörigen, welche durch eine emotionale Belastung und Involviertheit Grenzen überschreiten oder sogar den Rehabilitationsprozess behindern können, während sie gleichzeitig eine (mehr oder weniger offensichtliche) Hilfebedüftigkeit aufweisen.

Fachpersonal muss sich über die Dynamik innerhlab der Familie bewusst sein und psychosoziale Einflüsse in der Therapie berücksichtigen. Nur so kann ein positiver Betrag zur Lebensqualität des/der Patient*in und auch von pflegenden Angehörigen geleistet werden. (Handel 2003)

Welche Rolle spielt die Physiotherapie in der Behandlung schwer betroffener Patient*innen und deren Angehörigen?

Physiotherapeut*innen treten in triadischen Kommunikationsprozessen als Teamworker*innen auf und handeln hierbei, gemäß des CanMED Modells, als Manager*in und Führungsglied, indem sie Raum bieten, Erwartungen, Ziele und Wünsche zu äußern, die aufgrund der partnerschaftlichen Rollengefüge im Alltag möglichweise nicht geäußert werden.

Hier sollte von Therapeut*innen auch die Lebenswelt von Angehörigen beachtet werden, denn aus deren Situationsbewertung ergibt sich der Umgang mit der Erkrankung des/der Partner*in. Physiotherapeut*innen sollten als Kommunikator*innen frühzeitig auf die Wichtigkeit des Wahrens eigener Lebensbereiche von Angehörigen hinweisen, um so verstärkten Abhängigkeitsverhältnissen entgegenzuwirken. Der Fokus muss auf der Einheit liegen, denn sobald Angehörige als Glied und „Bündnispartner*in“ (Feichtner 2020) innerhalb der Kette, aufgrund von Überforderung „einbrechen“, hat dies einen entscheidenden Einfluss auf die Beziehung zum/zur hauptbetroffenen Person (z.B. Schuldgefühle, Angst ein Ballast zu sein) und damit auch auf dessen Situationsbewertung (Hoffmann 2022) sowie – daraus resultierend – die Voraussetzungen in der Physiotherapie.

Kommunikation

 

 

Pflegende Angehörige sind als Wirkfaktor im Rehabilitationsprozess anzusehen, da sie diesen in großem Maße prägen. Insbesondere bei Langzeitbetroffenheit sollten daher Erwartungen, Wünsche und Ziele aller Beteiligten im Zentrum der Therapie stehen.

 

Warum Angehörige nur wenig Einbezug in therapeutische Prozesse finden, könnte an einer begrenzten Therapiezeit sowie der starken Fokussierung auf den/die Hauptbetroffenen liegen, wodurch das soziale Umfeld nur wenig integriert wird. Dies verhindert eine ganzheitliche Betrachtung, die mit der Möglichkeit von Veränderungen über das therapeutische (Be-)Handeln hinausgeht.
Biopsychosoziale Therapieansätze unter Einbezug von Umweltfaktoren können so nur eingeschränkt ausgeschöpft werden.

In Anbetracht der hohen Zahl chronisch betroffener, häuslich versorgter Patient*innen und daraus resultierenden Herausforderungen für Angehörige sollte die Rolle von pflegenden Angehörigen in therapeutischen Prozessen und jahrelanger Begleitung und Zusammenarbeit besondere Berücksichtigung finden. Die kontinuierliche und transparente Kooperation von Fachpersonal und Angehörigen stellt einen zentralen Grundsatz der Versorgung dauerhaft schwer betroffener Patient*innen dar.

Grundlage bildet eine offene und wertschätzende Kommunikation auf Augenhöhe.

 

 

 

Literatur:

Bundesarbeitsgemeinschaft der Senioren-Organisationen e.V (BAGSO) (2021): Entlastung für die Seele – Ein Ratgeber für pflegende Angehörige. Bundesarbeitsgemeinschaft der Senioren-Organisationen e.V. Hg. v. DPtV. Online verfügbar unter
https://www.bagso.de/fileadmin/user_upload/bagso/06_Veroeffentlichungen/2021/BAGSO_Ratgeber_Entlastung_fuer_die_Seele.pdf, zuletzt geprüft am 07.09.2021

Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin e.V. (DEGAM) (2020): Schlaganfall S3-Leitlinie. AWMF-Register-Nr. 053-011 DEGAM-Leitlinie Nr. 8.Online verfügbar unter https://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/053011l_S3_Schlaganfall_2021-03.pdf, zuletzt geprüft am 20.04.2022.

Feichtner, A. (2020): Häusliche Pflege und die Rolle(n) der Angehörigen. In: Walter Schaupp und Wolfgang Kröll (Hg.): Spannungsfeld Pflege. Herausforderungen in klinischen und außerklinischen Settings. Spannungsfeld Pflege. 1. Auflage. Baden-Baden:
Nomos (Bioethik in Wissenschaft und Gesellschaft, Band 9), S. 91–108.

Hoffmann, M.; Nydahl, P.; Brauchle, M.; Schwarz, M. (2022): Angehörigenbetreuung auf Intensivstationen : Übersicht und Update. In: Medizinische Klinik, Intensivmedizin und Notfallmedizin 117 (5), S. 349–357. DOI: 10.1007/s00063-022-00915-7

Menzel-Begemann, A. (2015): Edukative Unterstützung Pflegebedürftiger und ihrer Angehörigen zur Vorbereitung auf die häusliche (Selbst-)Versorgung während der stationären Rehabilitation – Herausforderungen und Erfordernisse. In: Beltz Juventa.
Pflege&Gesellschaft 20 (2), S. 101–172

Statistisches Bundesamt (2022): Pflege: Pflegebedürftige in Deutschland. Online verfügbar unter https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Gesundheit/Pflege/_inhalt.html, zuletzt aktualisiert am 21.08.2019, zuletzt geprüft am 17.08.2021.

Stegbauer, C.; Häußling, R. (2010): Handbuch Netzwerkforschung. 1. Auflage. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften (Netzwerkforschung, 4). Online verfügbar unter https://link.springer.com/content/pdf/10.1007%2F978-3-531-92575-2.pdf, zuletzt
geprüft am 11.08.2021.

Schönberger, C.; Kardorff, E. (Hg.) (2004): Mit dem kranken Partner leben. Anforderungen, Belastungen und Leistungen von Angehörigen Krebskranker. Unter Mitarbeit von Christine Schönberger · Ernst von Kardorff: Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH.

von Bosse, A.; Richter, R. (2021): Häusliches (Zusammen-)Leben nach schwerem Schädel-Hirn-Trauma. In: neuroreha 2021; 13(04), S. 186–191

About the Author

Alexa von Bosse

Physiotherapeutin

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